Interview mit Naemi Härle von der Bertelsmann Stiftung

"Die Ausbildung ist und bleibt interessant, aber die Schüler sind verunsichert"

Interview: Was können Unternehmen tun, um Azubis für sich zu gewinnen?

Nur noch 41 Prozent der Schüler möchte sicher nach dem Schulabschluss in eine duale Ausbildung starten. Weitere 36 Prozent sind jedoch noch unentschlossen, ob sie lieber in eine Ausbildung oder ein Studium starten möchten. Unsicherheit, hervorgerufen durch die Corona-Pandemie, nimmt auf diese Entscheidung großen Einfluss. Naemi Härle, Senior Project Manager für die Themen Bildung und Next Generation bei der Bertelsmann Stiftung, gibt Einblicke in die Gemütslage der nächsten Auszubildendengeneration und weiß, was Unternehmen jetzt tun können.

Frau Härle, warum streben immer weniger Schüler nach dem Abschluss eine duale Ausbildung an?

Man hört sehr oft: Die Leute wollen doch alle studieren und keiner möchte mehr eine Ausbildung aufnehmen. Es ist jedoch nicht so einfach. Näher betrachtet ist der Rückgang an dual Auszubildenden ein Ergebnis aus der Verschiebung zur vollzeitschulischen Berufsausbildung, dem demografischen Wandel und konjunkturellen Unsicherheiten. Die schwierige Ausbildungsmarktlage, die schon seit langem angespannt ist und durch die Corona-Pandemie noch schwieriger wurde, sorgt bei vielen Jugendlichen für eine Verunsicherung. 

Und wie genau äußert sich diese Verunsicherung? 

In unserer Jugendbefragung gaben 70 Prozent der Befragten an, dass sich ihrer Einschätzung nach, die Chancen auf einen Ausbildungsplatz verschlechtert hätten. Unter diesem Eindruck bin ich nicht geneigt, mich um einen Ausbildungsplatz zu bewerben. Und tatsächlich: Laut Arbeitsagentur ist die Zahl der registrierten Bewerber zurückgegangen – genauso wie das Angebot an Ausbildungsplätzen. Dabei ist eine duale Ausbildung grundsätzlich nach wie vor sehr attraktiv.

Wie stark wird dieses Phänomen durch die Pandemie beeinflusst?

Sehr. Wir kennen das aus Krisen. Gerade die duale Ausbildung ist starken konjunkturellen Schwankungen ausgesetzt. Wir haben das zuletzt an der Finanzkrise gesehen, durch die es einen rapiden Einbruch der Ausbildungswilligen und der verfügbaren Ausbildungsplätze gab. Bei der Corona-Krise verhält es sich ähnlich. Da ist ein Universitätsstudium beispielsweise viel verlässlicher. 
Glauben Sie, dass zu dieser Unsicherheit auch die Eltern der Ausbildungswilligen beitragen, die sich eher eine akademische Laufbahn für ihren Nachwuchs wünschen?
Politisch wird oft behauptet, dass es einen Akademisierungswahn gäbe. Viele Jugendliche erwerben das Abitur, jedoch nicht unbedingt mit dem Ziel, anschließend auch studieren zu gehen. Denn auch der Anteil von anspruchsvollen dualen Ausbildungsgängen hat rapide zugenommen. Die Chancen auf bestimmte Wunschausbildungsberufe steigen in dem Fall in dem Maße, in dem ich einen höheren Schulabschluss erwerbe.

Laut der Arbeitsagentur bleiben aber auch Ausbildungsplätze unbesetzt und Ausbildungswillige finden keine geeignete Stelle. Wie kommt dieses Phänomen zustande?

Der Ausbildungsmarkt ist regional sehr verschieden. In manchen Regionen haben wir ein Versorgungsproblem, das heißt, es gibt mehr Bewerber als Ausbildungsangebote. Anderenorts haben wir mehr Ausbildungsplätze als Bewerber und manchmal ist beides verfügbar, aber die konkreten Bewerber und die konkreten Unternehmen passen oder finden nicht zueinander.

Haben wir also vielleicht auch ein infrastrukturelles Problem, was zum Rückgang der Auszubildenden beiträgt?

In Maßen, ja. Wir hören immer, dass Unternehmen über einen Fachkräftemangel klagen. Statistisch gesehen haben wir jedoch ein großes, ungenutztes Potenzial. 2019 gab es in Deutschland rund 2,1 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 34 Jahren, die keinen Berufsabschluss erlangt haben, sondern maximal eine schulische Qualifikation. Das entspricht einer Quote von fast 15 Prozent. Und wir sehen eine steigende Tendenz. Das heißt es gibt viele, die ganz ohne eine berufliche Qualifikation ins Berufsleben starten. Für diese jungen Menschen ist es schwierig, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Zudem sehen wir eine Entkopplung von Ausbildung und Beschäftigung: Zwar gibt es 21 Prozent mehr Beschäftigte, aber 10 Prozent weniger Azubis. Und lediglich rund 20 Prozent der Betriebe bilden überhaupt noch aus. Das war früher anders. 

Steigt damit die Ausbildung in ihrer Relevanz für Unternehmen?

Wenn man die Betriebe klagen hört, müsste das so sein, meine ich. Bisher manifestiert es sich leider nicht darin, dass sie auch ausbilden. Sie stellen immer mehr Leute ein, bilden aber nicht im gleichen Maße auch eigene Fachkräfte aus. Das beobachten wir insbesondere bei Klein- und Kleinstbetrieben. Also die Betriebe, die es besonders schwierig haben bei der Ausbildung. Ein großer Betrieb kann sich eine eigene Ausbildungsabteilung leisten, ein Betrieb von maximal fünf Personen nicht. Obendrauf eine Krise, wie wir sie gerade mit Corona erleben, ist da natürlich nicht förderlich. 

Könnte dieses große Problem Fachkräftemangel dann nicht gelöst werden, wenn dem Thema Ausbildung eine höhere Priorität zugeordnet werden würde?

Wir glauben: Auf jeden Fall. Um das Thema Migration werden wir in diesem Zusammenhang nicht umhinkommen, weil wir einfach so eine große demografische Lücke haben in Deutschland. Aber wenn man sich die 2,1 Millionen Menschen anschaut, dann ist das eine große Menge potenzieller Fachkräfte, die für den eigenen Betrieb ausgebildet und für den Arbeitsmarkt qualifiziert werden können. Das ist ein großes Ziel, welches wir uns gesellschaftlich setzen sollten. 

Man liest auch immer wieder, dass junge Menschen mit niedrigerer Schulqualifikation seltener für die Ausbildung berücksichtigt werden. Warum ist das so?

Es gibt steigende Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt und damit auch im Ausbildungssystem. Dadurch ergibt sich auch eine höhere Eingangsvoraussetzung für die Auszubildenden. Rein juristisch braucht es für die Ausbildung keinerlei schulischen Abschluss. Aber natürlich haben Betriebe nicht immer die Kapazität, sich eines jungen Menschen anzunehmen, der vielleicht erhöhten Unterstützungsbedarf hat. Das fällt bei kleineren Betrieben stärker ins Gewicht als bei den großen – die sich ihre Auszubildenden zumal häufig aus einer Vielzahl an Bewerbern aussuchen können. Wir haben also Jugendliche, die mehr Unterstützung benötigen und Unternehmen, die eigentlich auch mehr Unterstützung brauchen. Dazu kommt eine unheimlich hohe Erwartungshaltung seitens der Unternehmen, was ein junger Mensch bereits können sollte, bevor er seine Ausbildung beginnt. Aber kommt die Ausbildung nicht auch von Lehrjahren, weil man noch einiges zu lernen hat? 

"Schulen sind nach wie vor der beste Zugang zu Nachwuchskräften"

 

Was können Unternehmen tun, um das Matching zu verbessern?

Unternehmen können am besten bei sich vor Ort etwas tun: Mit den regionalen Schulen und den beruflichen Schulen früh ins Gespräch gehen und Praktika ermöglichen. Nach wie vor ist das immer noch der beste Zugang einerseits für junge Menschen, um zu bewerten, ob ihnen das Berufsfeld gefällt. Andererseits für Unternehmen, um junge Menschen kennenzulernen, die bei ihnen zukünftig Auszubildende und spätere Fachkräfte werden könnten. 

Und darüber hinaus?

Natürlich ist auch eine große Aufgabe, junge Menschen dort aufzusuchen, wo sie tagtäglich sind. Neben der Schule sind das Plattformen wie TikTok oder Instagram. Es gibt immer neue Medien, auf denen junge Menschen unterwegs sind und auf denen auch Unternehmen für sich aktiv werben können. Ich weiß wiederum, dass das für manche Unternehmen wirklich viel verlangt ist. Laut einer Studie von 2021 geben 30 Prozent der Unternehmen an, noch nicht einmal eine Website zu haben. Das wäre also schon ein erster Ansatzpunkt. Es ist schwierig für einen jungen Menschen ein Unternehmen zu finden, wenn dieses online nicht vertreten ist. Ich glaube, den Betrieben muss vermittelt werden: Es ist wichtig, dass ihr euch engagiert, es ist wichtig, dass ihr jungen Menschen ein klares Signal gebt, dass ihr sie wollt. Und das heißt eben auch, sich offen darstellen und zeigen, dass man jemanden möchte und nicht darauf warten, dass Bewerbungen eintrudeln.

Können Unternehmen noch etwas tun, um den Schülern mehr Sicherheit im Bezug auf eine duale Ausbildung zu geben und hierdurch wieder mehr daran teilnehmen lassen?

Sehr sinnvoll wäre für Unternehmen aufzuzeigen, welche Entwicklungs- und Karrierepfade innerhalb des Unternehmens möglich sind. Zum Beispiel ein duales Studium, was das Unternehmen finanziert. So verdeutlichen sie, dass junge Menschen auch mit einer Ausbildung noch alle Optionen offen haben.

Was spielt generell die Digitalisierung für eine Rolle im Ausbildungsgeschehen? Nicht nur in der Ansprache, sondern auch in der Ausbildung direkt?

Grundsätzlich führt die Digitalisierung in der Arbeitswelt zu weitreichenden Anpassungsbedarfen. Das heißt, die Berufsbilder ändern sich. Und das heißt auch die Anforderungsprofile in der Ausbildung müssen sich ändern. Aber in der öffentlichen Diskussion wird häufig zu kurz gegriffen, da es meist nur um die technische Ausstattung geht, die in der Berufsschule zur Verfügung gestellt wird, damit die jungen Menschen auf die Arbeitswelt der Zukunft vorbereitet sind. Natürlich ist es wichtig, dass Lernorte ausgestattet und auf dem neusten Stand sind. Dieser ändert sich jedoch laufend. Es geht also nicht nur darum, bestimmte Programme zu erlernen, sondern ein bestimmtes Set an Fähigkeiten, die es mir ermöglichen, solche Dinge zu erlernen. Wie spannend die jungen Menschen Tablets, VR-Brillen und dergleichen sicherlich auch finden. 

Welche fehlenden Kompetenzen sehen Sie da bei den Auszubildenden?

Häufig wird davon ausgegangen, dass die jungen Leute alle Digital Natives sind. Das stimmt jedoch überraschenderweise nicht ganz. Natürlich ist die Generation mit Internet, Handy und Onlineplattformen aufgewachsen – eine Medienaffinität ist aber nicht unbedingt eine Medienkompetenz. Die internationale Studie ICILS untersucht die Computerkompetenz von Schülern. Deutschland lag dort zuletzt im internationalen Vergleich im Mittelfeld. 30 Prozent der Schüler erreichten nur die beiden unteren Kompetenzstufen – das heißt, sie können maximal einen Link in einem Browserfenster öffnen. Lediglich zwei Prozent erreichen die höchste Stufe und sind in der Lage, selbstständig Informationen zu ermitteln, zu bewerten und zu organisieren. Diese Kompetenzstufe müssten wir eigentlich erreichen. Das beginnt in der Schulzeit, ist für die Ausbildung aber natürlich als Grundlage für die spätere Tätigkeit relevant.

Wenn das schon bei den Azubis der Fall ist, wie verhält es sich dann mit den Berufsschullehrern? 

Im Monitor digitale Bildung haben wir Berufschullehrer befragt, wie sie die für sich notwendigen Kompetenzen für die Digitalisierung erlangen. Heraus kam, dass dies vor allem informell und basierend auf eigenen Ambitionen erfolgt. Was fatal ist. Eigentlich brauchen wir ein Weiterbildungskonzept, was Lehrkräfte darauf schult, junge Menschen hinsichtlich der wichtigen Fähigkeiten wie einer Digitalkompetenz vorzubereiten. Außerdem wären aus meiner Sicht echte Lernkooperationen zwischen Berufsschulen und Unternehmen sehr wertvoll.

Wie könnten diese Lernkooperationen aussehen?

Gerade im Hinblick auf die Digitalisierung ist es verständlich, dass eine Berufsschule nicht ständig mit dem neusten technischen Standard ausgestattet ist. Viele Betriebe aber schon. Unternehmen könnten also entsprechende Einblicke ermöglichen, von denen alle profitieren. Ihre Auszubildende lernen dazu, aber vielleicht sehen auch andere Auszubildende, was für ein spannender Arbeitgeber das Unternehmen ist. 

"Digitalisierung in der Ausbildung erfordert ein durchdachtes pädagogisches Konzept"

 

Kann die Digitalisierung unter den Voraussetzungen die Qualität der Ausbildung verbessern? 

Ja, wenn ein ordentliches pädagogisches Konzept dahintersteht. Auch ein digitales Lernheft funktioniert zum Beispiel nur dann gut, wenn es gut in die Ausbildung eingebunden ist – genau wie beim analogen Lernheft auch. Wenn es nur heißt, der Auszubildende schreibt mal auf, was er gemacht hat und niemand schaut sich das Ergebnis an, dann wird daraus auch keine Lernkurve entstehen.

Gibt es neben der Digitalkompetenz weitere Fähigkeiten, auf die Auszubildende und Unternehmen in Zukunft setzen sollten?

Fachwissen bleibt wichtig und relevant. Es geht aber auch darum, diese Kompetenzen auf andere Situationen übertragen zu können. Viele Soft Skills werden relevanter, weil wir in der ganzen Arbeitswelt mit unterschiedlichen Personen zu tun haben, die andere Themen einbringen. Ich darf daher nicht nur in meiner Fachwelt zu Hause sein, sondern muss auch über den Tellerrand schauen und verstehen, einordnen und mich dann positionieren können. Die Berufsschulen können hierbei helfen, diese Kompetenzen zu entwickeln. Tatsächlich hat sich in der beruflichen Bildung auch schon viel getan, aber da gilt es sicherlich, noch weiter voranzuschreiten. 

In welche Richtung entwickelt sich der Arbeitsmarkt in den nächsten Jahren? Werden die Zahlen der Ausbildungswilligen nach der Corona-Pandemie wieder steigen?

Durch die Finanzkrise gab es einen Abfall, der sich auf einem niedrigeren Niveau wieder stabilisiert hat. Wir befürchten, dass es sich mit der Corona-Krise ähnlich verhält. Was brauchen wir also? Wir sprachen von über 2 Millionen Menschen, die keinen Berufsabschluss haben – das geht nicht. Weder aus gesellschaftlicher noch aus wirtschaftlicher Sicht. Wir brauchen diese Fachkräfte, wir dürfen das Potenzial nicht brachliegen lassen. Wir treten daher dafür ein, junge Menschen stärker zu unterstützen und damit mittelbar auch Unternehmen. Von uns favorisiert in Form einer Ausbildungsgarantie, wie sie jetzt auch im Koalitionsvertrag festgehalten wurde. Dabei wird den jungen Menschen eine staatliche Ausbildung zugesichert, sollten Sie nach eigenen Bemühungen keinen Ausbildungsplatz finden. Man muss jungen Menschen jetzt glaubhaft vermitteln, dass sie und ihre Wünsche ernst genommen werden und dass wir sie in Richtung Beruf gut begleiten wollen. Damit sie das Gefühl erhalten: Du wirst gebraucht und unterstützt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Über Naemi Härle

Naemi Härle ist Senior Projektmanagerin in der Bertelsmann Stiftung. Im Projekt »Chance Ausbildung« erarbeitet sie u. a. Analysen und Reformvorschläge für ein chancengerechtes und zugleich leistungsfähiges Ausbildungssystem. Dabei beschäftigt sie sich vor allem mit den Fragen, wie mehr jungen Menschen die Chance auf eine Ausbildung eröffnet werden und wie die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung verbessert werden kann.

Interview Bertelsmann Ausbildung

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