Interview mit Dr. Nico Rose
Was ist posttraumatisches Wachstum und wie können Unternehmen ihre Mitarbeiter auf diesem Weg begleiten, um gestärkt aus der Krise hervorzugehen?
Posttraumatisches Wachstum: Was brauchen Mitarbeiter für das Arbeiten im New Normal?
Die Corona-Pandemie hat nicht nur finanzielle Konsequenzen gehabt, sondern viele auch privat oder beruflich in eine Krise gestürzt. Im Februar folgte zudem der Krieg in der Ukraine. Durch jede Krise können jedoch auch positive Eigenschaften gewonnen werden. Dr. Nico Rose ist Experte für Positive Psychologie und Führung in Unternehmen. Im Interview erklärt er, was posttraumatisches Wachstum ist und wie Unternehmen ihre Mitarbeiter auf diesem Weg begleiten können, um gestärkt aus der Krise hervorzugehen.
Herr Rose, was versteht man unter dem Begriff des posttraumatischen Wachstums?
Menschen kehren nach so einer schweren Krise, wie wir es mit der Corona-Pandemie erlebt haben, nicht zu ihrem „alten“ Normal zurück. Stattdessen entdecken sie neue Seiten und Stärken, die ihnen dabei geholfen haben, die Krise zu meistern und sich nach deren Ende auch auf weitere Bereiche übertragen lassen. Diese Dynamik, bei der Menschen eine Krise oder ein Trauma bewältigen und hierrüber ein neues, funktionales Niveau erreichen, bezeichnen wir als posttraumatisches Wachstum. So sehen wir aktuell nicht bei allen, aber bei vielen Menschen, dass sie durch die letzten Monate subjektiv ein Stück weit ein anderer Mensch geworden sind.
Warum ist das in der aktuellen Situation mit einer Krise nach der nächsten so wichtig?
Schauen wir auf die letzten Jahre mit der Pandemie und die letzten Monate mit dem Krieg, dann sind wir gemeinschaftlich mehr durchgerüttelt worden als noch in den Jahren zuvor. Etwas, das wir in der westlichen Welt so kaum noch kannten. Solche Situationen wünscht sich natürlich niemand. Und trotzdem bergen sie auf krude Art und Weise auch ein großes Potenzial für Wachstum. Ich habe zu Anfang des ersten Lockdowns eine Studie durchgeführt, deren Ergebnisse bereits angedeutet haben, dass sich im Nachgang der Pandemie ein solches Wachstum abzeichnen könnte.
"Die Krise ist ein Katalysator für viele positive Nebenwirkungen."
Was waren das für Ergebnisse?
Ich habe unter anderem die Frage gestellt, ob es in der Pandemie auch etwas gäbe, für das die jeweilige Person besonders dankbar ist oder vielleicht sogar dankbarer als vor der Pandemie. Bei den Personen, die diese Frage bejahen konnten, hat sich bereits abgezeichnet, dass sie das Pandemiegeschehen vergleichsweise gut handeln konnten. Aktuell ist es noch etwas früh, diesen Umstand als posttraumatisches Wachstum zu bezeichnen. Aber wir sehen schon die ersten zarten Pflänzchen.
Haben Sie ein Beispiel, wie diese Ansätze eines posttraumatischen Wachstums im Arbeitskontext aussehen könnten?
Man ist schnell dabei, auch mal über die lieben Kollegen zu lästern und sich aufzuregen. Durch den Homeoffice-Zwang ist jedoch vielen wieder stärker bewusst geworden, dass ein Teil von guter Arbeit auch darin besteht, mit anderen Menschen gemeinsam zu arbeiten, sich zu begegnen und in Resonanz zu sein. Gleichzeitig hat dieser physische Abstand aber auch dazu geführt, dass sich das Thema der Kollaboration enorm weiterentwickelt hat. Hätte uns jemand vor drei Jahren gefragt, ob wir uns vorstellen könnten, dass eine digitale Kollaboration in diesem Maße möglich ist und Unternehmen dabei – erfolgreich – weiterexistieren, hätten wir dieser Person vermutlich einen Vogel gezeigt. So ist die Krise ein Katalysator für viele positive Nebenwirkungen.
Aktuell befinden wir uns wieder in einer Umbruchsphase der Pandemie. Hat diese aus Ihrer Sicht Auswirkungen auf die von Ihnen beschriebenen Effekte?
Ich glaube, für viele hat die Pandemie trotz eines hohen Infektionsgeschehens ein Stück weit ihren Schrecken verloren, sodass Unternehmen sich nun Gedanken machen können, ob sie ihre Mitarbeiter zurückholen wollen, inwiefern, mit welchem Freiraum und für wie lange. Natürlich sind das Herausforderungen für Unternehmen, denen sie sich stellen und die sie lösen müssen. Aber wichtige Herausforderungen, die wir ohne die Krise gar nicht kennen würden. So abwegig das manchmal klingt, hat die Pandemie auf struktureller Ebene viele positive Auswirkungen mit sich gebracht.
Vor der Pandemie war remote Arbeit häufig mit dem Vorurteil verknüpft, dass Mitarbeiter im Homeoffice nicht produktiv wären. Durch die Pandemie musste dieser Switch schnell passieren – inklusive Kontrollverlust der Arbeitgeber. Jetzt erwarten viele Unternehmen wieder eine vollständige Rückkehr ins Büro. Wie beurteilen Sie diese Situation?
Ich glaube – rechtliche Vorgaben und Pandemiegeschehen außer Acht gelassen – dass die Homeoffice-Pflicht ein Fehler war. Denn im Grunde handelt es sich hier um dasselbe Problem, als alle noch ins Büro kommen mussten. Eben nur unter anderen Vorzeichen: Beides nicht immer notwendig oder hilfreich. Wir wissen aus der Forschung, dass das Bedürfnis nach Autonomie neben der menschlichen Bindung der wahrscheinlich stärkste Treiber für Motivation ist. Aus meiner Sicht ist daher weniger die Frage relevant, wo gearbeitet wird. Sondern vielmehr, ob Unternehmen so viel Flexibilität zulassen und sich trauen, ihren Mitarbeitern diese Entscheidung weitestgehend selbst zuzumuten. Denn das ist die eigentliche Autonomie; die innere Freiheit, mir meinen Arbeitsplatz selbst aussuchen zu dürfen.
"Menschen verlassen in bisher nicht gekanntem Ausmaß ihre Arbeitgeber."
Motivation ist im Vorzeichen der großen Kündigungswelle ein wichtiger Faktor. Steht diese Welle im Zusammenhang mit der Pandemie und des daraus resultierenden posttraumatischen Wachstums?
Angefangen in den USA und in Großbritannien, sprechen wir mittlerweile auch in Deutschland von einer „Great Resignation“, bei der Menschen in bisher nicht gekanntem Ausmaß ihre Arbeitgeber verlassen. Zum Teil ohne zu wissen, was danach kommt. Natürlich können wir diesen Umstand nicht monokausal erklären. Aber ich glaube, dass die Pandemie bei vielen Menschen dazu geführt hat, über die Sinnperspektive nachzudenken. Tatsächlich gibt es für posttraumatisches Wachstum eine Kriterienliste. Und eines dieser Kriterien sind neue Prioritäten – im persönlichen wie beruflichen Bereich. Zu verstehen, welche Beziehungen in meinem Leben wirklich wichtig und nährend und welche vielleicht verzichtbar sind, weil sie mich nicht stärken. Das posttraumatische Wachstum auf individueller Ebene könnte daher durchaus dazu führen, dass die Bereitschaft wächst, den Arbeitgeber zu wechseln, da einem die Arbeitsverhältnisse nicht mehr zusagen – auch ohne einen neuen Job in Aussicht zu haben.
Gibt es etwas, was Führungskräfte tun können, um ihre Mitarbeiter dennoch zu halten?
Ich würde zunächst anerkennen, dass diese Dynamik aktuell stattfindet – mit oder ohne mich. Anschließend würde ich versuchen, entsprechende Gesprächsangebote bereitzustellen. Denn nur weil sich jemand verändern möchte, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass die Veränderung woanders stattfinden muss. Vielleicht möchte sich die Person auch innerhalb ihrer Aufgaben im Unternehmen verändern. Vielleicht hat es aber tatsächlich auch etwas mit dem Arbeitszeit- oder Arbeitsortmodell zu tun. Das Wichtigste an dieser Stelle ist daher das Thema Kommunikation: Zu fragen, wie es der Person geht. Ob sie noch dieselbe Person wie vor zwei Jahren ist und wie sich die Veränderungen im Beschäftigungsverhältnis widerspiegeln müssen. Ich glaube das wäre ein guter Einstieg. Was nicht heißt, dass Unternehmen alle Menschen werden halten können. Aber die offene Diskussion ist mit Sicherheit klüger, als die Mitarbeiter sich selbst zu überlassen und einfach eine Entscheidung treffen zu lassen.
Können Führungskräfte denn das posttraumatische Wachstum ihrer Mitarbeiter unterstützen?
Ich glaube fairerweise, dass das nicht die Aufgabe der Führungskräfte ist. Das Thema ist ursprünglich im therapeutischen Kontext verortet. Viele Führungskräfte werden dafür nicht ausgebildet sein – und möglicherweise genauso mit den Folgen der Krise zu kämpfen haben. Wenn Unternehmen ihre Mitarbeiter hier unterstützen wollen, ist es daher aus meiner Sicht am besten, externe Hilfe hinzuzuziehen. Denn posttraumatisches Wachstum passiert nicht von allein, sondern durch Auseinandersetzung mit der jeweiligen Krise. Hierfür braucht es einen psychologisch sicheren Raum, der es den Menschen ermöglicht, sich darüber auszutauschen, was da passiert. Vielleicht auch, um voneinander zu lernen und das am besten, wie gesagt, mit professioneller Begleitung.
Man vergisst schnell, dass Führungskräfte auch nur Menschen sind und ebenso von den negativen Auswirkungen der Krisen betroffen sind.
Gerade in den Führungsetagen finden sich viele Menschen mit einer stark ausgeprägten Leistungsmotivation. In diesem Fall ist es doppelt so schlimm, wenn man bemerkt, dass man plötzlich nicht mehr so leistungsfähig ist und nur 80 statt 120 Prozent leisten kann. Diese Menschen geißeln sich zusätzlich zu der Belastung durch die Krise also noch dafür, dass sie nicht so leistungsfähig sind wie üblich – quasi eine Krise zum Quadrat. Eine wichtige Dynamik, die man Führungskräften aus meiner Sicht im Augenblick ermöglichen sollte, ist auch hier ein sicherer Raum und dass es unter derartigen Umständen normal ist, nicht jeden Tag 100 Prozent und mehr geben zu können. Dass man auch Schwäche zeigen darf. Und das dient wiederum den Mitarbeitern als Vorbild.
Gibt es noch weitere Kriterien, die Unternehmen beachten können, um die neue Situation für alle Beteiligten positiv zu gestalten?
Wir müssen, dürfen und sollten anerkennen, dass die Menschen sich mehr als zwei Jahre lang an eine andere Situation gewöhnt haben. Gewöhnungsprozesse, Umgewöhnungsprozesse und Neugewöhnungsprozesse brauchen ihre Zeit. Es funktioniert also nicht, jetzt einen Schalter umzulegen – und alles ist wie vor der Pandemie.
Ich bin zuversichtlich, dass wir uns mit genügend Zeit wieder an das Alte Neue gewöhnen werden. Auch da ist es meiner Meinung nach hilfreich, wenn Unternehmen nicht ein noch höheres Pensum erwarten, weil die letzten Jahre etwas verloren gegangen ist, sondern den Menschen diese Zeit gewähren und signalisieren, dass es in Ordnung ist, wenn am Anfang noch nicht wieder alles normal ist. Und auch hier die Möglichkeit zum Austausch zu bieten. Aus meiner Sicht liegt diesbezüglich der nachhaltige Schlüssel zum Erfolg in der nötigen Behutsamkeit.
Vielen Dank für das Gespräch!
Über Dr. Nico Rose
Dr. Nico Rose ist einer der führenden Experten für Positive Psychologie in Deutschland und bezeichnet sich selbst als Sinnput-Geber. Bis Anfang 2022 war er Professor für Wirtschaftspsychologie an der International School of Management in Dortmund. Seit Mai 2022 ist er als Gastdozent an der SRH Hochschule für Leadership und Coaching tätig.
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